Der größte Braunkohletagebau Deutschlands schluckt rheinländische Dörfer, Felder, Wälder. Im Hambacher Forst versucht eine Gruppe Aktivisten das Unmögliche: Mit Baumhäusern und Barrikaden wollen sie den Wald vor den Kohlebaggern retten – und das Klima schützen
Es ist Nacht, als sie loslaufen, immer tiefer in den Wald hinein. Dünne Äste knacken unter nackten Füßen, herabfallende Knospen prasseln sanft auf die Blätter der Bäume. Seit der Frühling den Wald vor zwei Wochen förmlich explodieren ließ, dringt das Mondlicht kaum noch hindurch. Trotzdem schalten sie ihre Taschenlampen aus, weil es schöner ist, sie singen. Nach und nach teilen sie sich auf, jetzt sind sie nur noch zu zweit oder allein. An langen Seilen klettern sie in die Baumwipfel, ziehen sich hoch, Meter für Meter. Zu hören ist nichts außer dem Rascheln und dem Dröhnen, dem immerwährenden Dröhnen. Oben in den Kronen legen sie sich in ihren selbst gebauten Baumhäusern schlafen, damit die Bäume auch noch da sind, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen.
Sie versuchen aufzuhalten, was nicht mehr aufzuhalten ist. Jeder Baum, jeder Busch, jeder Grashalm wird in spätestens zehn Jahren in dem Loch verschwinden, das aus Norden kommend das Land verschluckt. Der Hambacher Forst, einst ein stattlicher Wald von 55 Quadratkilometern, ist nur noch ein schmaler grüner Streifen südlich der alten Autobahn A4. Seit letztem Herbst fährt auf ihr kein Auto mehr, nördlich des geisterhaft stillen Asphaltstreifens ist der Wald schon kahl rasiert bis auf die Stümpfe. Das Loch ist der Braunkohletagebau Hambach, mit gut 42 Quadratkilometern Betriebsfläche die größte Kohlegrube Deutschlands. Darin schaufeln die größten Bagger der Welt – 220 Meter lang, 96 Meter hoch und so schwer wie rund 10.000 Autos – täglich 240.000 Tonnen Abraum und Braunkohle, den klimaschädlichsten aller Energieträger. Das Verhältnis von Energieausbeute zu Treibhausgasausstoß ist bei keiner Form der Stromerzeugung schlechter. In Zeiten, in denen die Auswirkungen des Klimawandels weltweit immer deutlicher werden, bezeichnet RWE die Braunkohle eisern als „zuverlässigen Partner der Energiewende“. Im Dunkeln leuchten die riesigen Bagger grell auf der Anhöhe am Horizont, sie schaufeln ohne Pause. Und sie dröhnen, dröhnen, dröhnen.
„Das ist das Letzte, was ich höre, bevor ich einschlafe“, sagt Tom, der eigentlich anders heißt. „Das erinnert mich immer daran, warum ich hier bin.“ Es gehe ihm nicht nur um den Klimawandel oder die Braunkohle, sondern um „das kapitalistische Dreckssystem“. Warum er hier ist, hat auch mit dem Riss in der Außenwand seines Elternhauses zu tun. Es stehe in einem Dorf in der Umgebung. Viele Häuser hätten dort Risse bekommen, Bergschäden nennt man so etwas. RWE lässt rund um den Tagebau das Grundwasser abpumpen, damit der Konzern die Braunkohle in großer Tiefe abbaggern kann. In der Folge sackt die Erde ab, auf der Häuser wie das von Toms Eltern stehen. Trotzdem klettert nur der Sohn hier mit zerschlissener schwarzer Hose auf die Bäume, um sie zu besetzen, sabotiert die Arbeiten des Energiekonzerns, lässt sich so oft festnehmen, dass er aufgehört hat, mitzuzählen. „Meine Eltern respektieren RWE trotz allem als großen Arbeitgeber“, sagt Tom. Manchmal hole sein Vater auch Holz vom Rand des Tagebaus, das der Konzern günstig an die Bevölkerung verkauft, Holz, das in demselben Wald geschlagen wurde, den sein Sohn zu schützen versucht.
Sie sitzen im Kreis um ein Feuer, auf dem in einem Topf Kaffee aufkocht. Buchingen nennen sie diesen Ort im Wald, an dem sie ein Baumhaus in eine Buche gebaut habe. Es ist ein sonniger Morgen im Mai, mit dem Kaffee weihen sie das Bodencamp unterhalb der leuchtend roten Blutbuche ein. Endlich ist es wieder warm genug, um nachts auf dem weichen Waldboden zu schlafen. Tassen, Planen und Decken haben sie von der Wiese am Waldrand geholt. Dort ist während der dreijährigen Besetzung ein buntes Dorf gewachsen mit Wohnwagen, Igluzelten, Lehmhütten, Gemüsebeeten, Küchen- und Werkstattzelt.
Die Wiese gehört dem Steuerberater Kurt Claßen aus dem rund vier Kilometer entfernten Nachbarort Buir. Er unterstützt die Besetzer aus Protest gegen den Tagebau. Seine Wiese ist ihr sicherer Rückzugsort außerhalb der Reichweite des Sicherheitspersonals – der gesamte Hambacher Forst gehört längst RWE. Doch der Rückzugsort ist nur so sicher, wie es das Rechtssystem erlaubt: Seit gut zwei Jahren fordert der Kreis Düren die Räumung der Wiese, aus baurechtlichen Gründen. Claßen klagte dagegen und berief sich auf das Versammlungsrecht. Ende Mai wies ihn das Verwaltungsgericht in Aachen ab, ließ aber eine Berufung zu. Er will weitermachen, durch alle Instanzen, bis es nicht mehr geht. Bis dahin hat die Wiese Bestandsschutz.
Der Frieden auf der Wiese kann einen manchmal fast darüber hinwegtäuschen, dass das hier alles ein aussichtsloser Kampf ist. Da tollt die Hündin Lavanda mit ihrem puscheligen Welpen Coji, da übt der lockige Moritz Lieder auf dem Akkordeon, da spielen die drei Kinder der 33-jährigen Joy auf alten Paletten, ganz beschmiert mit blauer Farbe vom Transparentemalen.
Joy findet, man müsse nicht alles vor den Kindern verstecken, sie sollten sehen, was hier passiert. Wenn die Polizei ein Baumhaus räumt, dann geht sie manchmal ganz bewusst mit ihren Kindern in den Wald. Ihrer Familie ist das zu radikal, das Jugendamt drohte mit Inobhutnahme. „Aber ich weiß vor mir, dass es richtig ist“, sagt sie. Am liebsten würde sie mit den Kindern einen Hektar Wald besetzen, aber das geht dann auch ihrem Mann etwas zu weit. Denn das Leben im Hambacher Forst ist gefährlich. Früher patrouillierten weiße Geländewagen der Sicherheitsfirma durch den Wald. Seit die Aktivisten die Wege mit Barrikaden aus toten Ästen und Schrott versperren, kommen sie zu Fuß mit Schäferhunden. Mit ihnen und mit den Polizeieinheiten hat jeder schon seine Erfahrungen gemacht. Die Räumung eines Baumhauses sei schmerzhaft, langwierig – und teuer. Die Aktivisten hoffen RWE damit zumindest finanziell wehzutun. Was sie nicht wissen: Die Polizeieinsätze bezahlt der Steuerzahler, wie der Konzern auf Anfrage mitteilt.
Ihre erste Festnahme im letzten Jahr sei brutal gewesen, erzählt Olli, kurze grüne Haare, auch sie heißt eigentlich anders. „Drei Polizisten haben mich auf den Boden geworfen und sich auf meinen Rücken gesetzt.“ Die Repressionen seien schwer zu ertragen, erzählen die beiden Aktivistinnen, die sich heute Katinka und Molli nennen. Schmerzgriffe, Schlagstöcke, Pfefferspray, Beschimpfungen. „Und wir werden dann als gewaltvolle Menschen bezeichnet, dabei tun die uns Gewalt an“, regt sich Molli auf.
Aus der Gegensicht sieht das naturgemäß ganz anders aus. In seinem Nachbarschaftsmagazin „hier:“ widmete RWE den Waldbesetzern im August 2013 eine komplette Ausgabe. Darin wirft das Unternehmen den Aktivisten „lebensgefährliche Tätlichkeiten“, „bösartigen Erfindungsreichtum“ und „kriminelle Energie“ vor, ihre „Zerstörungswut“ sei „unglaublich“. „Wenn man so einen Vermummten durch den Wald laufen sieht, erschreckt man geradezu“, schreibt ein Mitarbeiter des RWE-Werksschutzes. Unbestritten ist: Sie tun alles, um den Betriebsablauf zu stören. Sie besetzen Bagger, ketten sich an die Gleise der Kohlebahn, erzeugen Kurzschlüsse in den Oberleitungen, schlitzen Reifen auf. In der Nachbarschaft hat ihnen das einen zweifelhaften Ruf eingebracht. Manche haben Angst vor ihnen und trauen sich nicht in ihre Nähe, wie etwa die Besucher des kleinen Sportflugplatzes nahe der Wiese, die sich bei Nässe in dem holprigen Feldweg festfahren und sich dann nicht trauen, die Wiesenbewohner um Hilfe zu bitten. Andere finden schlicht sinnlos, was die Besetzer da tun.
„Die kommen fünfzig Jahre zu spät“, sagt Barkeeper Bernd in der einzigen verbliebenen Kneipe im Nachbarort Morschenich. Nur zwei Leute hat er an diesem Dienstagabend zu bedienen; die Chefin selbst und der einzige, etwas schwerhörige Gast sitzen am Tresen, im Fernsehen läuft ein Champions-League-Spiel. Sein Geld verdient Bernd im Tagebau, „als Mädchen für alles“, wie er sagt. „Das ist schon kein schönes Gefühl, wenn man die ganze Zeit für die arbeitet, und dann muss man sein eigenes Dorf abreißen“, sagt er in rheinischem Dialekt. Eine Zeit lang kamen die Waldbesetzer jeden Dienstag hierher in die Kneipe, um sich mit den Anwohnern zu vernetzen. Mittlerweile komme kaum noch einer. „Das sind auch immer andere. Wenn fünf gehen, kommen zehn nach“, sagt er, während er Bier und Jagdbitter nachschenkt. 2024 wird Morschenich abgebaggert. „Bis dahin können die sich da noch was austoben.“
Manche Anwohner freuen sich aber auch, dass die Besetzer da sind und unterstützen sie mit ganz profanen Dingen wie einer Dusche oder einer Wäsche. Bei zwei Bauern können sie sich Gemüse abholen, ein Bäcker schenkt ihnen das Brot, das er nicht verkaufen konnte. „Uns war sofort klar, dass die jungen Menschen Kontaktmöglichkeiten brauchen“, erzählt Mia Thieme, während einer der Aktivisten, der sich für diesen Artikel Melisse nennt, Wasserkanister aus ihrem Hahn befüllt. Zu Anfang boten sie und ihr Mann Lars Schlafplätze an, jetzt dürfen sich die Waldbesetzer so oft sie wollen Wasser abholen, seit einer Weile organisiert Lars außerdem Ausflüge für Kölner in den Hambacher Forst und zur Grube. „Wir sind täglich in der Arbeit, deswegen können wir uns nicht in den Wald setzen, so wie die das machen“, sagt Mia. „Aber wir können helfen und Interesse zeigen.“ Als Kind habe sie viel im Wald gespielt, schon allein deswegen findet sie gut, was die Waldbesetzer machen. „Man hört im Dorf, dass viele das sehr fragwürdig finden“, sagt die Mutter von drei Kindern. „Es werden auch schnell Gerüchte erzählt, dass sie zum Beispiel RWE-Mitarbeiter brutal zusammenschlagen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Als die Autobahn A4 wegen des Tagebaus direkt an den Stadtrand von Buir verlegt wurde, da protestierte sofort eine Bürgerinitiative. „Aber es geht ja nicht nur um die Buirer, sondern es geht um alles, um das Klima“, sagt Mia. Und so geht es streng genommen auch nicht um den Wald. „Wenn sie die Bäume gerodet haben, dann besetzen wir die Häuser. Und wenn sie die Häuser geräumt haben, dann besetzen wir die Felder“, sagt Tom.
Seit seine Mutter bei einem Besuch gesehen habe, wie hart der Sicherheitsdienst mit ihm umgegangen sei, habe sich ihre Einstellung geändert. Für den Winter strickte sie ihnen Sturmhauben. Sein Vater, ein Zahnarzt, behandle inzwischen kostenlos seine Mitstreiter. Auch Moritz’ Eltern waren gerade zum ersten Mal da. Sein Vater bot ihm an, beim nächsten Mal ein Ultraschallgerät gegen die Ratten mitzubringen, die sich seit kurzem in der Küche breit machen. Elternsolidarität.
Die starken Eichen und die zähen Buchen, auf denen die Aktivisten ihre Hütten mit Seilen befestigt haben, werden die ersten sein, die fallen. Denn irgendwann wird er wieder kommen, der Räumtrupp, und wird die Baumhäuser zerstören, wie er es schon fünfmal gemacht hat. Und dann können sie sich nur noch festketten, damit es möglichst lange dauert, aber verhindern können sie es nicht. Der Trupp wird die Hütten aus den Bäumen reißen, wird auch sie aus den Bäumen reißen und verhaften, wird die großen Bäume fällen, sodass nur noch ein platter Stumpf von ihnen übrig bleibt. Das verwertbare Holz wird er mitnehmen, den Rest wird er liegenlassen. Es wird ein Zeichen sein, keine notwendige Fällung, denn die Rodungskante ist hier noch weit entfernt. Ein Zeichen gegen die Baumbesetzer.
Aber vielleicht ist es gar nicht wichtig, ob der Widerstand siegt, sondern dass er etwas in den Köpfen verändert.
greenpeace magazin 2015
FOTOS Markus Feger