Mitten in Deutschland lagert tief unter der Erde so viel Giftmüll, dass man damit die gesamte Menschheit auslöschen könnte. Dort soll er bis in alle Ewigkeit sicher sein. Fachleute bezweifeln das
Die doppelte flaschengrüne Gittertür rastet ein, mit einem Ruck fällt der Förderkorb in die Tiefe. Zehn Meter pro Sekunde, rauschende Luft, Druck auf den Ohren. Die Stirnlampen werfen zitternde Lichtkegel auf die grobe Felswand, an der die Bergleute hinabrasen. In 640 Metern Tiefe empfängt sie die Schutzpatronin Barbara in einem kleinen beleuchteten Glaskasten, daneben hängen die Bergbausymbole Schlägel und Eisen mit dem Bergmannsgruß „Glück auf“. Hinter ihnen liegt einer der giftigsten Orte der Welt: die Untertagedeponie Herfa-Neurode. Allein mit dem Arsen, das hier unten auf die Ewigkeit wartet, könnte man die gesamte Menschheit auslöschen.
Im restlichen Teil des Bergwerks wird Kalisalz abgebaut. Das Werk Werra liegt genau in der Mitte Deutschlands, an der hessisch-thüringischen Grenze. Da, wo bis Ende der 80er-Jahre noch zwei deutsche Staaten aneinanderstießen. Über hundert Jahre haben Bergleute ein gigantisches zweistöckiges Höhlensystem in die Erde gegraben. Das Werk ist heute so groß wie der Autobahnring um München und damit das größte Kaliabbaugebiet der Welt. Betrieben wird es von der K+S AG (früher „Kali und Salz“), die das gewonnene Kalisalz hauptsächlich zu Mineraldünger verarbeitet und als einer der führenden Anbieter weltweit vertreibt. Firmenslogan: Wachstum erleben.
Vor rund vierzig Jahren kam man auf die Idee, die bereits ausgebeuteten Werksabschnitte als Lagerräume zu nutzen. Und zwar für etwas, das man sowieso gerne los wäre: Giftmüll. Genehmigt wurde das vom damaligen Landesoberbergamt Wiesbaden. Seit 1972 wächst die Untertagedeponie Herfa-Neurode wie ein Hefepilz in die verlassenen Abbaufelder. 50.000 Tonnen Giftmüll werden jährlich in den leer gesprengten Hohlräumen im Salzflöz eingelagert, während an anderer Stelle weiterhin 25 Millionen Tonnen Salz im Jahr aus dem Erdreich gesprengt werden. Das Geschäft mit dem Müll ist zukunftsträchtig und das größte und älteste seiner Art. K+S ist Superlative gewöhnt.
Es erinnert vieles an Gorleben: hochgefährliche Stoffe sollen tief unter der Erde in einer Salzhöhle für die Ewigkeit vergraben werden. Gegen den letzten Castortransport in das niedersächsische Atommülllager demonstrierten 25.000 Menschen. Bei Herfa-Neurode geht niemand auf die Straße, wenn die Gefahrguttransporter neuen Giftmüll anliefern, denn kaum jemand weiß überhaupt davon. Dabei sind die Probleme einer Salzlagerstätte bei beiden Lagern gleich – Kritiker bezweifeln, dass sie ewig dichthalten werden.
Unter Tage gibt es überraschend vieles, was man von oben kennt. Die Einlagerung des Mülls erfordert eine komplette Infrastruktur: Verkehrsschilder, Werkstätten, Tankstellen, sogar Blitzer. Erlaubt ist Tempo 50, wo gerade gearbeitet wird, Tempo 30. „Auch unter Tage ist Deutschland“, kommentiert das Sascha Rühl, Grubenwirtschaftsingenieur der Untertagedeponie. Er steuert sein Auto ins hohle Dunkel – Straßenlaternen gibt es nicht. Trotz der mindestens zwei Meter hohen Decken ist es bedrückend hier unten. Stockdunkel, warm und muffig. Der Geruch kommt von dem Müll, der sich hinter Ziegelmauern rechts und links des Weges in Fässern, Containern und Plastiksäcken, genannt Big-Bags, bis zur Decke stapelt. Laut Messgerät dürfte man hier kein Gas riechen, aber die Nase ist feiner.
Arsenhaltige Abfälle aus der Metallaufbereitung, Chemierückstände, Filterstäube aus Müllverbrennungsanlagen, alkalische Hydroxidschlämme – hier unten lagert die dunkle Seite der Konsumgesellschaft. 13 Stoffgruppen werden zwischen dicken Salzsäulen aufbewahrt und auf einem bunten Lageplan kartiert. Einige Abfallarten wie Filterstäube, Flugaschen und Kalkschlämme werden aufbereitet dazu genutzt, instabile Pfeiler abzustützen. Bevor sie mit dem Förderkorb nach unten fahren, werden die angelieferten Stoffe penibel kontrolliert. Was radioaktiv, flüssig, infektiös, gasentwickelnd oder selbstentzündlich ist, wird zurückgeschickt. „Wir verfügen hier über ein großes Sicherheitsnetz“, sagt Rühl.
Gifte wie Quecksilber, Dioxine, Cyanid oder Arsen sind dagegen erwünscht. Unter Tage sind sie aus den Augen, aus dem Sinn. Es sei denn, verwertbare Stoffe lassen sich durch neue Recyclingmethoden doch noch von den Giften trennen, wie jüngst das Kupfer von Trafos. Sie wurden ausgelagert, das Kupfer ausgebaut, der Rest verbrannt und als Filterstaub erneut eingelagert. So gut die Methode auch ist, ein giftiger Rest bleibt immer; und für den gibt es nur einen Ort, und der liegt sehr tief unter der Erde.
Hinter einer schweren Stahltür ruht das Gedächtnis der Untertagedeponie. Von jedem eingelagerten Stoff steht hier eine Probe in einem kleinen Glas mit Plastikschraubverschluss. Das Sortiment reicht von mehlartigem Pulver bis zu roten, pinken und gelben Bröckchen und Kügelchen. Viele Gläser sind von Hand beschriftet, wie Großmutters eingeweckte Marmeladen- und Kompottvorräte. Und viele haben dunkle Geschichten zu erzählen, von Giftmüllskandalen, Chemieunfällen oder Industrieprozessen, die längst der Vergangenheit angehören. Wie das Glas mit dem pinken Pulver: Es enthält ein Pflanzenschutzmittel aus DDR-Produktion. Greenpeace deckte 1992 die Verschiebung von 2000 Tonnen davon nach Rumänien auf. Dort gammelten die Pestizide in rostigen Fässern, Korbflaschen und Pappschachteln vor sich hin und sickerten ins Grundwasser. Ein Jahr später erzwang die Umweltorganisation die Rückholung der giftigen Altlast nach Deutschland. Nun lagert sie in Herfa-Neurode.
50.000 Tonnen neuer Giftmüll pro Jahr – das entspricht dem Gewicht von zehntausend Elefanten. Lastwagen mit Totenkopf-Aufklebern bringen ihn in die Mitte Deutschlands. Auch das ist nicht ungefährlich: 2010 waren Gefahrguttransporter in 309 Unfälle verwickelt. Mehr als ein Drittel des Mülls kommt aus dem Ausland, zu Spitzenzeiten waren es schon mal 62 Prozent der Jahresmenge. Laut Firmenangabe stammt er größtenteils aus westeuropäischen Nachbarstaaten. Konkreter könne man das „mit Rücksicht auf Wettbewerber“ nicht verraten. Das Geschäft lohnt sich für beide Seiten: K+S bekommt für jede eingelagerte Tonne einmalig 260 Euro, der exportierende Konzern entledigt sich der Verantwortung für das giftige Erbe. Mit der Einlagerung geht sie auf K+S über – für immer. 2,7 Millionen Tonnen Giftmüll lagern schon in dem alten Salzstock – bis jetzt.
Die Untertagedeponie brachte dem Konzern 2010 einen Jahresumsatz von knapp 74 Millionen Euro ein. Gut 30 Millionen Euro Rücklagen muss K+S für die endgültige Schließung des Betriebs bilden, so die Auflage des Regierungspräsidiums Kassel. Zwischenfälle sind nicht eingeplant, denn die seien bereits bei der Genehmigung ausgeschlossen worden.
Salzstöcke gibt es viele auf der Welt, Untertagedeponien nicht. Deutschland hat mit vier solcher Deponien weltweit eine absolute Monopolstellung, laut K+S gibt es nur eine weitere im britischen Manchester. Auf die Frage, warum die Länder ihren Müll nicht selber einlagern, erklärt Volker Lukas, Technik- und Behördenleiter von K+S: „Das ist eine Frage des Leidensdrucks.“ Viele Länder lagern den Müll einfach oberirdisch, ähnlich wie in den Atommüllzwischenlagern. Oder sie schicken ihn eben nach Deutschland.
Wie schwer die ewige Verantwortung für K+S einmal wiegen wird, kann niemand vorhersehen. Das Unternehmen muss garantieren, dass der Müll in seinem Salzstock für immer sicher ist. Laut einem Langzeitsicherheitsnachweis für 10.000 Jahre kann es das auch. So lange brauche das Salz, bis es die Fässer, Container und Big-Bags vollkommen umschlossen habe, erklärt Volker Lukas. „Das Salz verhält sich wie Zahnpasta.“ Im Lauf der Jahrhunderte fließt es in alle Zwischenräume. Es ist gasdicht und eine massive Tonschicht über dem Salz hält Wasser ab. Herfa-Neurode ist besser als die Asse, besser als Gorleben – auf dem Papier eigentlich perfekt.
Und genau da liegt das Problem. „Langzeitsicherheitsnachweise sind wunderschöne Papierübungen, haben aber mit der Realität wenig zu tun“, sagt Marcos Buser. Der Geologe und Sozialwissenschaftler beschäftigt sich schon seit über dreißig Jahren mit Tiefenlagern und verfasste dazu mehrere Bücher und Studien. Als Mitglied der „Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit“ berät er den schweizerischen Bundesrat. Man könne nicht 10.000 Jahre in die Zukunft sehen, auch nicht mit geologischen Berechnungen. Der Ansicht ist auch der Kieler Geologe Ulrich Schneider: „Die Behauptung, dass es im Salz wegen dessen plastischer Eigenschaften nicht zu offenen Klüften kommen kann, kann heute als widerlegt gelten.“ Durch solche Spalten werde es früher oder später zu Wassereinbrüchen kommen. „Die oft beschworene Trockenheit von Bergwerken im Salz ist ein Mythos“, sagt Buser. So könnten die vergrabenen Gifte doch wieder an die Oberfläche gelangen, allerdings nicht mehr verpackt und mit Warnhinweisen gekennzeichnet, sondern im Wasser gelöst. So etwas auszuschließen sei „eine naive Sicht der Dinge“. Weitere Schwachstellen werden noch entstehen: Wenn die Untertagedeponie irgendwann voll ist, werden die Schächte zugemacht. Ob die Verschlüsse dichthalten werden, weiß keiner, kritisiert Buser.
Er hält Herfa-Neurode derzeit zwar für die „am wenigsten schlechte“ Untertagedeponie, kennt aber genügend Standorte, die ebenfalls als absolut sicher galten und es dann plötzlich doch nicht mehr waren. Wie die französische Giftmülldeponie Stocamine nahe der deutschen Grenze: Sie sollte in den 90er-Jahren die modernste, sicherste, größte werden – bis die Realität sie einholte. 2002 brach ein verheerender Schwelbrand in der alten Kalimine aus, Teile der Decke stürzten ein, der Betrieb musste eingestellt werden. Schon heute fließt Wasser in die Grube. Laut Prognosen wird sie in 100 bis 150 Jahren überschwemmt und das Grundwasser verseucht sein, sollte der Giftmüll bis dahin noch dort lagern. Auch im K+S-Werk hat es schon gebrannt, und es dringt Wasser ein. Laut Firmenleitung ist die Giftmülldeponie durch Salzbarrieren aber ausreichend geschützt.
„Wir können nicht einfach die Erde ausbeuten, einen Dreckstall zurücklassen und die Abfallstoffe dann in der billigsten Art und Weise vergraben“, kritisiert Buser. Viele der in der Deponie eingelagerten Stoffe ließen sich besser auftrennen, verwerten oder so behandeln, dass sie unschädlich oder schwerer löslich sind. Das ist, wie so oft, eine Frage des Geldes, denn solche Verfahren sind langwierig und teuer.
An der Erdoberfläche kündet nichts von dem Giftgrab unter den Füßen. Die Landschaft ist grün, hügelig – idyllisch. Proteste gegen die Deponie gibt es nicht. Zwischen Bergbau und Anwohnern ist eine merkwürdige Symbiose entstanden, der Giftmüll ist da nur ein Kapitel in einer langen Geschichte. K+S ist in der Region Arbeitgeber Nummer eins. Ohne das Bergbauunternehmen wären viele der kleinen Orte „mausetot“, hat der Bürgermeister des Städtchens Heringen mal gesagt. Für die Wirtschaft muss die Umwelt leiden: K+S leitete jahrelang Unmengen Salzlauge in die Werra, bis fast nichts mehr in dem Flüsschen überlebte. Jetzt will es die Lauge via Pipeline entsorgen – teils nach wie vor in die Werra, teils in die Weser, vielleicht sogar in die Nordsee, schreibt K+S in einer Pressemitteilung.
Auf einer riesigen Halde schüttet die Firma schlecht verwertbares Kochsalz auf. Daraus wuchs mit den Jahren ein 200 Meter hoher Berg, von den Anwohnern liebevoll „Monte Kali“ getauft. „Das Land der weißen Berge“ wirbt bei Touristen mit der tollen Aussicht vom Salzberg. Sogar über einen Freizeitpark am Fuß der Halde dachte man nach. Fehlen nur noch Schneewittchen und die sieben Zwerge. Die Berge und das Gift sind schon da.
greenpeace magazin 2012