Ich zähl' bis 100

 

Lotta führt Buch darüber, mit wem sie geschlafen hat. Ihr großes Ziel: 100 Sexpartner sollen es mal sein. Für uns hat Lotta ihre geheimen Tagebücher geöffnet  


Zwei unscheinbare Notizbücher liegen da im Gras. Eines mit grauen Steinen auf dem Cover, eines rot, mit abgerundeten Ecken. Lotta hat sie vor sich gelegt, in diesem Hamburger Park an einem warmen Tag. Lotta heißt eigentlich anders, wohnt eigentlich woanders, und da sie vorhat, diese Bücher nun zu öffnen, ist es besser, man weiß nicht allzu viel über sie. Denn die Bücher enthalten die intimsten Details ihres Liebeslebens. Jeden einzelnen Sexpartner hat sie darin festgehalten. 100 sollen es werden, das ist ihr Ziel. Wieso macht sie das? Lotta schlägt das erste Buch auf.

 

1. THORBEN, MAI 2002
Türke, Raucher, 21 Jahre (ich war 14),

Seeed-Konzert, Zungenkuss Er küsste mich einfach am Hals, ohne vorher ein Wort mit mir geredet zu haben. Dann fragte er, ob ich solo sei, und es ging los ... Wir küssten uns vor meiner ganzen Klasse, zwischendurch fragten wir nach dem Namen und dem Alter. Dann ging er kurz weg, als er wiederkam, verabschiedete er sich mit Handküssen von mir. Für meinen ersten Kuss fand ich es gut.
* Es war nicht nass, und er wusste, was er macht. Aber er schmeckte nach Kippen.

 

Mit dem Kuss fing alles an. Ihre Freundinnen, die teilweise schon Sex gehabt hatten, freuten sich so für Lotta, damals 14 Jahre alt: „Endlich ist deine Zunge entjungfert!“

 

14-jährige Mädchen mögen Listen, von den besten Freundinnen, den nervigsten Lehrern, den coolsten Jungs. Lotta begann also, den Kuss als Beginn einer Liste zu sehen. Sie schrieb ihn in das Buch mit den Steinen auf dem Cover, kennzeichnete die Seite mit einem weißen Lesezeichen. Vielleicht fing sie damit an, um sich zu vergewissern, dass sie, Lotta, die Spätzünderin, jetzt dazugehörte: Hier stand es ja.

 

Ihren ersten Kusspartner sah sie nie wieder. Sie gab ihm die Bewertung „Da gibt’s einen Haken“, markiert mit violettem Buntstift, wegen des Aschenbechergeschmacks im Mund. Daneben klebte sie einen Schmetterlingssticker, eine entpuppte Raupe. Lottas Frühling hatte begonnen.

 

Ihren dritten Kuss hatte sie mit einem Mädchen. „Ich war immer experimentierfreudig“, sagt Lotta jetzt im Park. Sie flüstert nicht, sie spricht es aus, selbstbewusst. Es scheint sie nicht zu stören, dass die Menschen um sie herum ihre intimsten Geschichten mithören könnten. Stattdessen zeigt sie sich offensiv, sieht immer wieder zu einem Mann rüber, der ein paar Meter entfernt steht, er gefällt ihr.

 

Ihren ersten Mädchenkuss strich Lotta mit gelbem Buntstift an, Bewertung „okay bis gut“.

 

3. ALEXANDRA Z., FRÜHJAHR 2003
weiblich ...!, 14 Jahre (15), Schulhof, Zungenkuss

Irgendjemand hat gesagt, küsst euch doch, wir haben uns angeguckt und uns geküsst.
* Ich fand es toll, besonders besser als Alex.

 

Lotta schrieb sie auf, die guten und die schlechten Küsse, die langen und die kurzen, manchmal auch nur einen Namen, manchmal ein Fragezeichen. Aus der anfänglichen Selbstvergewisserung wurde ein Ritual.

 

Vier Jahre und 27 Küsse später suchte sie in Australien mit einem Typen, Name unbekannt, das Meer.

 

28. ..., 21. MAI 2007
#1 MEIN ERSTES MAL

Mein erstes Mal verlief ... gut?! Ich war in Surfers Paradise auf einer Party, da habe ich einen Schotten kennengelernt. Blöderweise war ich arg betrunken (kann mich jetzt auch nicht mehr erinnern, wie er aussah). Wir sind rausgegangen und haben das Meer gesucht – wäre ja schön gewesen. Haben es aber nicht gefunden und haben uns dann an einen Fluss gelegt. Er wusste nicht, dass ich Jungfrau bin, hat auch nichts gemerkt. Und mir hat’s gefallen. Ich fand’s gut, und ich hab den Sternenhimmel noch im Kopf.

 

„Ich war besoffen, er war besoffen“, sagt sie heute, so als ginge es nicht um ihr eigenes Leben. „Sein Name hat mich nicht sonderlich interessiert.“ Es ging um Sex, nicht um Liebe. Lotta war ja mal wieder die Spätzünderin, 18, es musste dann echt mal sein.

 

Jetzt, mit 29, ist sie beim zweiten Buch, klein und rot ist es, schnörkelloser als das mit Steinchen besetzte Frühwerk. Lotta sammelt weiter, nur eben nicht mehr nur die Küsse, sondern den Sex.

 

Lotta lebt mit all den Bettgeschichten nicht nur ihre Lust aus, sie gibt ihnen eine Sinnhaftigkeit, größer als die schlichte Libido. Sie verfolgt damit ein messbares Ziel, Nummer für Nummer, bis es irgendwann eben 100 sind.

 

Die polnische Philosophin Jolanta Brach-Czaina schrieb, wir Menschen könnten uns nicht mit der Rolle abfinden, nur ein Handlanger des Alltäglichen zu sein. Wir alle suchten nach einem Sinn in dem, was wir tun. Und dabei hilft es manchen eben, ihre routinierten Handlungen festzuhalten. Indem Lotta ihr Sexleben dokumentiert, das Ziel 100 vor Augen, gibt sie dem Alltäglichen einen Sinn. Mit den Jahren ist daraus eine Gewohnheit erwachsen, etwas, das für sie normal geworden ist.

 

Mit den Bewertungen hat sie irgendwann aufgehört, das passte mehr zur jüngeren Lotta, deren restliches Leben ja auch von den schulischen und akademischen Bewertungssystemen in „gut“, „befriedigend“ oder „mangelhaft“ eingeordnet wurde. Die heutige Lotta leitet die Kreativabteilung einer mittelständischen Firma in Nordrhein-Westfalen. Schluss also mit Noten.

 

... (NAME UNBEKANNT)
#33, Club

Wir fahren vom Club mit dem Taxi zu mir. Wir fackeln nicht lang drum herum, und es geht gleich zur Sache. Es ist schön. Er übernimmt die Führung, und wir probieren viele Stellungen. Gut bestückt ist er auch. Wir fahren danach wieder zum Club. Ich treffe Dominik und gehe mit ihm nach Hause. Er will in dem Moment auch mit mir schlafen. Aber da plagt mich dann doch mein Gewissen. Wir schlafen Arm in Arm.

 

Wer denkt, Lotta vögle sich rücksichtslos durch die Gegend, macht es sich zu einfach. „Ich habe einfach gern und viel Sex“, sagt sie. „Das können manche vielleicht nicht nachvollziehen.“ Sie wirkt offen und entspannt, wenn sie davon erzählt, keine Scham. Sollte sie die haben?

 

Bei Nummer 82 ist Lotta jetzt. 82 Männer und Frauen, mit denen sie geschlafen hat, Blowjobs und andere Formen der Befriedigung nicht mitgezählt. Das entspricht ungefähr acht Sexpartnern pro Jahr, wenn man die Beziehungen abzieht, hat sie ausgerechnet. Lotta müsste also in etwa zwei Jahren ihr Ziel erreicht haben. 100.

 

Wieso eigentlich 100? „Das ist irgendwie eine reizvolle Zahl“, sagt sie. Seit sie ahnte, dass sie die erreichen kann, hat sie dieses Ziel, wie ein Jogger, der merkt, dass ihm das Laufen liegt: Wieso nicht auf den Marathon hintrainieren?

 

100, da wäre Lotta schon stolz drauf. Mit 100 Menschen geschlafen zu haben, wer kann das von sich behaupten? Welche Frau vor allem?

 

Die meisten Freunde, die von ihrem Ziel wissen, wollen Lotta ein High Five geben, wenn sie ihr Ziel erreicht. Aber ist es tatsächlich so einfach? Hat es eine Frau mit einer solchen Zahl nicht viel schwerer, akzeptiert zu werden, als ein Mann? Gestatten wir einer Frau wirklich, ihre sexuellen Bedürfnisse so auszuleben, ohne nicht wenigstens die Augenbraue zu heben? Hat nicht jeder jetzt schon, an diesem Punkt im Text, ein schnelles Urteil über Lotta gefällt?

 

Ein Teil der Antwort liegt darin, dass Lotta nicht Lotta heißt, dass sie nicht erkannt werden will, dass man nicht wissen soll, wer sie ist, wie sie aussieht, wo sie wohnt. Familie und Kollegen sollen sie als seriöse Chefin kennen, die schlichte Blusen, Strumpfhosen und Bleistiftröcke trägt. Als ein Kollege auf einer Firmenfeier zu eng mit ihr tanzte, schob sie ihn weg. In dieser Welt ist Nähe zu ihr keine Option, Sex schon gar nicht.

 

Wäre Lotta ein Mann, sähe das vielleicht anders aus. Männer, die mit vielen Frauen schlafen, gelten als Gigolos; Frauen als Flittchen. Einer Umfrage der Singlebörse Lovescout24 zufolge findet jeder vierte Deutsche, dass Frauen nicht

mehr als fünf Sexpartner haben sollten. Tatsächlich nennen die im Schnitt auch eine entsprechende Zahl: 4,3. Für sich selbst finden Männer dagegen, fünf Sexpartner seien nicht genug. Sie geben an, durchschnittlich mit 7,4 Frauen geschlafen zu haben.

 

NAME: ?, ... 02.14
#64

Wow ... Der hat ein Riesenteil!!! Nicht nur lang, auch ein unglaublicher Durchmesser. Ich will keinen Sex, weil wir keine Kondome haben, lasse mich am nächsten Morgen doch breitschlagen. Er denkt, es war meine Masche.

 

Wenn eine ihrer Bettbekanntschaften sie fragt, mit wie vielen sie vorher schon Sex hatte, versucht Lotta, die Antwort zu umgehen. Eine Zahl wie 82 kann ja schon einschüchtern. Wenn Männer wissen, dass sie viele Männer vor ihnen hatte, dann fühlen sie sich unter Druck gesetzt, sagt Lotta. „Einer ist sofort total eifersüchtig geworden, da konnte ich nicht mal mehr tanzen gehen.“ Und wenn Lotta ganz ehrlich ist zu sich selbst, dann hat die hohe Zahl sie auch ihre große Liebe in London gekostet.

 

23 war sie, als sie nach London zog, 24 Nummern sollte sie dort sammeln. Sie zog in eine Zwölfer-WG in Tottenham, ehemaliges Industriegebiet, acht Quadratmeter unterm Wellblechdach für 1000 Euro im Monat. Es war trotzdem die beste Zeit. Das ganze Viertel war voll mit WGs, jedes Wochenende Partys, Drogen und Sex.

 

Da war zum Beispiel der DJ, mit dem es beim ersten Mal geil war, beim zweiten Mal hatte er dann aber einen „Speed-Pimmel“, wie Lotta sagt: Er wurde in ihr schlapp, verlor das Kondom. Sie war sauer, weil es wehtat, das Kondom rauszuholen, weil sie einen HIV-Test machen musste und weil er sie danach bedrängte. Sie schlief dann bei ihrem Mitbewohner, „das war aber nicht so schlimm, weil ich mit dem ab und zu auch was hatte“. Lotta lächelt.

 

Der Mitbewohner erzählte ihr vom „Torture Garden“, Europas größtem Fetisch-Club: „Das ist doch was für dich.“ Ja, das war es.

 

Ihr gefiel alles daran, die Musik, die Shows, die Freizügigkeit, die Extravaganz, die Themenräume, vor allem der Bondage-Raum, in dem sie sich fesseln und auspeitschen ließ. Einen der Master dort zum Orgasmus zu bringen, das gab ihr eine unglaubliche Bestätigung, sagt sie. An manchen Abenden sammelte sie fünf Nummern. Lottas Streben nach der 100 wurde auch eine Suche nach immer neuen Herausforderungen.

 

TORTURE GARDEN
#66 #67 #68 #69 #70

Ich gehe allein zu der Party und lasse mich erst mal von dem Master etwas spanken. Es macht total Spaß, aber dann muss ich erst mal gevögelt werden. Zehn Minuten später, und ich habe einen Mann gefunden – kleine Vorstellung vor ein paar Leuten, danach quatsche ich mit einer Transe, die mich quasi den ganzen Abend begleitet und mich beobachtet. Ich lasse mich noch von anderen vögeln und blase dabei zwei oder drei anderen einen. Das hat mich so angeturnt. Am Ende habe ich einen langhaarigen Typen mit Geweih nach Hause mitgenommen bzw. im Wohnzimmer vernascht (habe ja keine Wohnung mehr in London). Bevor wir heim sind, habe ich noch mit der Transe rumgeknutscht, er wollte mich auch unbedingt lecken ... Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich schon den sexy Hirsch im Schlepptau.

 

Und dann verliebte sie sich in einen ihrer Mitbewohner. Aus Verliebtheit wurde Liebe, aus einer Liebe ohne Adjektive davor wurde die große; ein Jahr dauerte ihre Beziehung. „Er kannte meine Vorgeschichte“, sagt Lotta. „Er hatte das Gefühl, dass ich zu verrückt für ihn wäre.“ Sie wollte mehr Sex als er, das hielt er nicht aus. Für diese Liebe hätte sie auf ihr ausschweifendes Sexleben verzichtet, er aber hatte das Gefühl, ihr nicht zu genügen. Dabei wollte sie doch nur ihn. „Das fand ich schon schlimm.“

 

Also weiter.

 

Ein namenloser One-Night-Stand. Dreier mit zwei Ungarn in Feinrippschlüppern. Blowjob bei einem 80-Jährigen im Swingerclub. Rumknutschen mit einer 75-Jährigen. Sex mit einem 19-Jährigen. Vier Affären gleichzeitig. Doggystyle, Fesseln – nur Dirty Talk, das kann sie nicht. Als ein Engländer sie mal bat, beim Sex schmutzige Sachen auf Deutsch zu sprechen, nannte sie stattdessen Tier- und Gemüsenamen. „Ich kann das einfach nicht gut sagen“, sie senkt die Stimme, „Schwanz zum Beispiel.“ Lotta kichert, ihre Wangen werden rot.

 

NAME: JORAM (25), ICH (27), 12.1.2015
#74

Ein toller Mann, ... sehr nett und hat interessante Sachen zu erzählen. Wir haben Sex im Pool, in einem Vier-Sterne-Luxus-Resort. Im Meer und im Hotel ... Eine Woche bin ich mit ihm unterwegs, und es ist einfach nur schön.

 

Natürlich hat sie schon darüber nachgedacht, ob sie sexsüchtig ist. Als Sexsucht gilt ein gesteigerter Geschlechtstrieb, der das ganze Leben bestimmt, zwanghaft. Diese Bezeichnung fand Lotta aber nie passend, selbst in den intensivsten Phasen nicht. „In der Studienzeit war das auf jeden Fall problematisch“, sagt sie. „Da dachte ich, ein Abend ist erst perfekt, wenn die Musik gut war, getanzt wurde und ich einen Mann mit nach Hause gebracht habe.“ 

 

Das hat auch Freundschaften belastet, wenn sie den Gesprächen ihrer Freunde kaum zuhörte, sondern den Club nur nach der nächsten Nummer absuchte. Wenn sie verschwand und die anderen stehen ließ.

 

Mittlerweile sei das „kontrollierbar“, sagt Lotta, es muss nicht unbedingt immer sein. Zwar geht es ihr oft noch um Spaß, „dann ist der Mann ein besserer Vibrator“. Während Lotta aber immer mehr Nummern sammelte, änderte sich etwas: Ging es früher nur um Selbstvergewisserung und darum, immer neue Herausforderungen auszutesten, so ist es heute auch eine Suche nach dem Richtigen – der großen Liebe. Beziehung, Hochzeit, Kinder: „Das wäre schon was“, sagt Lotta.

 

Wenn sie ganz romantisch drauf ist, dann stellt sie sich vor, dass es die Nummer 100 sein wird, der dreistellige Traumprinz. Sollte es schon die 98 sein, wäre ihr die 100 auch egal, sagt sie, ist ja bloß eine Zahl. Nachdem Lotta das ausgesprochen hat, zögert sie, denkt nach und sagt dann: „Obwohl? Ein bisschen schade wäre es schon.“

 

Wenn sie die 100 voll hat, dann hört sie vielleicht auf mit den Büchern, mit dem Festhalten – aber nicht mit dem Sex an sich. So war das damals, beim ersten Buch, auch mit den Küssen.

 

Würde der Richtige denn erfahren, welche Nummer er ist? Lotta zögert. „Ich würde erst mal dazu tendieren, es nicht zu sagen.“ Sie hätte Angst vor der Eifersucht auf all die Männer vor ihm.

 

Nummer 82, den letzten Eintrag, hat sie noch nicht geschrieben. Sie lernte ihn bei einem Open Air kennen. Lotta fand ihn gut, so richtig gut. Sie schliefen miteinander. Als sie ihn wiedersehen wollte, hatte er dann plötzlich eine Freundin, die er vorher verschwiegen hatte.

 

Das tat weh. Erst. Aber dann dachte Lotta: „Na ja, habe ich noch eine Nummer mehr.“ Ein Schritt näher bis zur 100.

NEON 2017